Rettungsanker

Disclaimer: Kein Charakter, Ort oder sonstiger Gegenstand dieser kurzen Geschichte gehört mir, sondern allein den Herren Lindelof und Abrams, sowie ABC und Konsorten.
Rating: PG-13
Spoiler: bis Ende Staffel 2 (ganz leichte Staffel 3)
Zusammenfassung: Die letzte Szene von Lost.


Schmerz. Unsäglicher Schmerz.

Augen öffneten sich. Die Pupillen versuchten sich an das grelle Morgenrot zu gewöhnen. Doch diese Arbeit nahmen ihnen graue Wolken ab, die sich zunehmend daran versuchten, das Rot vom Himmel zu tilgen. So konnte er wieder seine Umgebung wahrnehmen, wo er war, was er hier machte, was passiert war.
Seine Schmerzen waren schlimmer denn je, aber er musste dadurch. Er musste sich jedem und allem stellen. Für ihn gab es nie ein zurück. So schmerzhaft es auch war – in diesem Falle sogar sehr – er machte nie einen Rückzug. Vielleicht war das nicht immer eine kluge Entscheidung gewesen, aber so war er nun mal. Immer mit dem Kopf voraus.
Als er sich langsam erhob, fühlte er sich so, als wäre ein Elefant über ihn hinüber gestampft. Und das nicht nur einmal. Hey, ein Elefant, dachte er. Den gab’s hier noch nicht. Nach Pferden und Eisbären würde ihn irgendwie nichts mehr überraschen. Ein Elefant. Der würde hier gut reinpassen. In diesem paradiesischen Kuriositätenkabinett, wo nichts unmöglich erschien. Ein Elefant. Das könnte auch eine Erklärung dafür sein, wieso von seiner Umgebung so gut wie nichts mehr vorhanden war, was ein Merkmal für eine Insel in den tropischen Gebieten darstellen könnte. Erst nach kurzer Zeit verwirrten Daseins erkannte er, wo er sich befand. Achja, die Insel. Oder das, was von ihr noch übrig war. Palmenhaine, Insekten, Vegetation, strahlend blauer Himmel. Alles vergessen. Nur noch Ansätze davon konnte man erahnen, aber auch nur, wenn man wusste, wonach man suchen sollte. Diese gottverdammte Insel. Einst ein Paradies für die Ewigkeit und jetzt nur noch von Staub, Rauch und Feuer zerfressen. Unverschont, aggressiv, überall.
Er erinnerte sich. Etwas ist passiert. Die Ursache für allen Übels. Für den Untergang dieses schönen Fleckes auf Erden. Er erinnerte sich nur an das grelle Licht und diesen ohrenbetäubenden Knall. Er konnte nichts verhindern, nur noch starr zusehen, wie es geschah. Aber es waren nur Erinnerungsfetzen. Kleine Teile von Bildern, die in seinem Kopf rumspukten und für Unruhe, Verzweiflung und Hilflosigkeit sorgten. Es ergab alles keinen Sinn. Keine Kontinuität, keinen Zusammenhang.
Der Wind peitschte die Wellen in meterhohen Zügen gen die Küste, wo sie mit einem lauten Geräusch gegen die Felsen krachten. Pechschwarze Palmenäste bröckelten, und versuchten, nicht dem neuen Trend nachzugehen und zu Boden zu fallen. Doch der Wind war gnadenlos. Nicht das er nur das Feuer brachte, er war sozusagen auch der Henker und bestimmte, wer leben darf und wer nicht. Eine neue Farbe dominierte auf der Insel. Schwarz, Symbol des Todes und des Bösen, ragte überall hinaus.
Die Erinnerungen, die noch immer in seinem Kopf hin und her sprangen, waren nicht sehr hilfreich. Er wusste nicht, was passiert war. Er konnte sich an fast gar nichts mehr erinnern. Wieso bin ich auf so einer Insel? Ich bin abgestürzt. Glaube ich. Schemenhafte Blicke in die Vergangenheit wurden ihm gestattet, mehr aber auch nicht. Er sah einen Mann, sein Name war, so glaubte er, John Locke. Ein Mann des Glaubens, ein Mann des Schicksals. Er war mit einer der letzten Überlebenden von Flug 815. Je mehr er darüber nachdachte, desto deutlicher wurde es wieder.
Er saß mit ihm am Strand und wartete auf das Ende. Die Insel fordert seine Opfer, hatte er immer und immer wieder wiederholt, aber sonst blieb er immer nur stumm und hatte nie mit ihm normal geredet. Sie saßen nur da, mit dem Blick auf’s Meer gerichtet, und warteten. Selbst das Schiff und das Flugzeug, die vor einigen Tagen die Insel passierten, hatten sie nicht mehr wahrgenommen. Sie warteten nur, aber auf was? Ihre Blicke glichen eher denen von Psychopathen, die in ihrer Nervenheilanstalt ihre dritte Dosis Beruhigungsmittel erhalten haben, statt von Überlebenden eines Flugzeugabsturzes, die sich wohl nichts Sehnlicheres wünschen würden, als gerettet zu werden. Irgendwann. Von wem auch immer. Sei es von fremden Menschen, Gott oder sogar den Tod. Es war ihnen egal. Nach all der langen Zeit auf der Insel. Sie wollten einfach nur von dem nun tristen Leben auf der Insel erlöst werden. Doch ihr Schicksal schien ihnen vorbestimmt, mit der Verdammung auf diesem nun zu Ödland gewordenen Stück eines Erdflecks.
Zum einen schauten die Beiden auf das weite Meer hinaus, zum anderen aber auch in sich selbst hinein, in ihrer Ansammlung von Gedanken und Erinnerungen. Sie blickten zurück, wo ihre Freunde geblieben sind. All die Leute, die sie erst in den letzten 100 Tagen kennen und lieben gelernt hatten. Mehr oder weniger. Sie waren jetzt alle fort. Locke und er waren die letzten von einst über 50 Leuten, die auf einer einsamen Insel im Pazifik die Chance auf ein neues Leben erhalten hatten. Eine zweite Chance für ihre Fehltritte in ihrem Leben, bevor sie in das Flugzeug gestiegen sind, ihrem Schicksal entgegen. Sie waren alle fort. Hatten das Glück, entfliehen zu können, oder eben Pech. Wie man es eben sieht. Michael und Walt schienen wohl Glück gehabt zu haben. Sie bekamen ein Boot und flohen. Er hatte nie wieder etwas von ihnen gehört, obwohl er sich vor allem irgendwie schon mit Michael angefreundet hatte. Doch dieser hatte alle verraten, um seinen Sohn zu bekommen. In jeglicher Hinsicht war er erfolgreich. Ob die Beiden es wohl geschafft haben? Nun das Boot war nicht sonderlich groß und auch nicht für größere Strecken geeignet. Die einzige Chance bestand wohl daran, wieder an den Toren der Zivilisation zu klopfen. Sei es eine andere Insel, wo Kommunikation herrschte oder ein anderes Boot. Vielleicht haben sie es aber auch nicht geschafft und ruhen nun auf dem Grund des Ozeans. Ob er es jemals erfahren würde? Nach dem Zwischenfall mit Ana-Lucia und Libby ist ihm das aber ziemlich egal geworden.

Charlie und Claire hatte es in einer Nacht erwischt. Wie fast jeden zweiten Tag hatte es geregnet gehabt. Doch dieses Mal war es noch schlimmer. Ein Gewittersturm fand den Einzug ins Gebiet. Und ein Blitz schlug direkt in ihr Zelt ein, während sie schliefen. Glücklich, liebend vereint, Aaron, Claires Sohn, in ihrer Mitte. Sie hatten keine Chance. Als die anderen das Feuer endlich löschen konnten, war von den Dreien nicht mehr viel übrig geblieben. Außer der unerträgliche Gestank, der noch Wochen danach grassierte. Es war einfach nur eine Tragödie. Genauso konnte man es bei Jin und Sun zusammenfassen. In den letzten Tagen hatten sich die beiden wieder ziemlich vom Rest der Gruppe distanziert gehabt. Eines Morgens waren sie komplett verschwunden. Keiner wusste, was passiert ist. Sie suchten nach den Beiden dennoch. Doch sie blieb erfolglos. Zwei Tage vergingen, als Jin wieder auftauchte. Er war völlig verwirrt und nicht ansprechbar. Und selbst wenn er ansprechbar gewesen wäre, wer hätte ihn denn verstanden? Doch das war nicht mehr von Belangen. In der Nacht darauf wurden alle von einem lauten Knall aus dem Schlaf gerissen. Er war ohrenbetäubend, nahe und sehr bedrohlich. Sayid war als erster am Ursprung des Lärms und fand nur noch Jin’s leblosen Körper vor. Neben ihn eine Pistole, noch halb in der Hand verharrend, die immer schneller von der Kälte des bittersüßen Todes eingehüllt wurde. Er hatte sich selbst gerichtet. Die Gruppe war geschockt. Sun’s Leiche wurde zwei Tage später im Dickicht entdeckt, nahe der Black Rock. Was mit ihr passiert ist, wusste keiner. Sie wieß kaum Verletzungen auf, nur ein paar Kratzer. Die Mystik dieser Insel hatte nun auch das Glück dieses koreanischen Paares eiskalt eingeholt. Ob es Jin war mit eigener Absicht, ob es Jin war mit fremder Absicht oder ob es überhaupt nicht Jin war, konnte niemand mehr klären, nur das er anscheinend mit ihrem Tod nicht mehr fertig wurde und sich am Ende schließlich selbst richtete. Als Sünder oder Opfer, oder beides.

Waren diese Tragödien Vorzeichen eines noch größeren Übels? Mehr als die Hälfte verstarb vor nicht einmal einem Monat. Es herrschte eine Art von Infektion, die die Überlebenden von Flug 815 infizierte. Vielleicht war es jene Krankheit, die es angeblich schon immer zu geben schien, gegen der es einen Impfstoff gab. Natürlich war der Glaube daran ziemlich hoch, aber im Endeffekt machte es keinen Unterschied, denn bevor sich die Infizierten Gedanken darüber machen konnten, lagen sie schon im Sterben. Ohne einen Arzt hatten sie keine Chance auf irgendeine Art von Rettung. Jack, Kate und Sawyer waren immer noch verschwunden, nachdem Hurley erzählt hatte, dass sie von diesen ominösen Anderen entführt worden sind. Vielleicht hatten sie ja sogar mehr Glück als die Leute, die im Camp am Strand elendig zu Grunde gingen.
Locke war keiner von diesen. Er war auf der Suche, nach der letzten Station, die er auf dem UV-Plan gesehen hatte. Desmond konnte ihn nur vage dabei helfen. Er wusste, dass sie „die Flamme“ hieß, aber mehr auch nicht. Als er eines Tages von seiner Exkursion wiederkam, fand er viele Tote, nur wenige waren noch am Leben, aber ihrem Schicksal wohl bestimmt. Locke konnte nach anfänglichem Entsetzen nur noch Lächeln. Er wusste, er konnte nichts mehr tun als nur noch zuzuschauen und Beistand zu leisten. Der eine Mensch sieht einen sterbenden Vogel und denkt, dass es nichts auf der Welt gibt, als grundlosen Schmerz. Aber der Tod hat immer das letzte Wort. Er lacht ihn aus. Der andere Mensch blickt auf denselben Vogel und sieht Herrlichkeit. Er fühlt, wie etwas durch ihn hindurchlächelt. Ja, Locke konnte sie alle nur beneiden. Sie wurden erlöst. Er nicht.

So vergingen schließlich die Tage, des Schweigens, der Langeweile, der Hoffnung und der Verfluchung. Als er mit Locke am Strand saß, schweiften seine Gedanken zu Kate ab. Er hatte sie einfach nur noch lieb gewonnen, weil sie immer für ihn da war. Er fühlte sich schrecklich ohne sie. Er vermisste sie. Er wünschte sie sich einfach nur zu sich. Doch sie blieb verschollen. Genauso wie Jack. Für immer. So schnell wie er seine vielen Freunde gewonnen hatte, so schnell wurden sie auch wieder von ihm genommen. Manchmal dachte er wirklich darüber nach, was er nur im Leben falsch gemacht habe, dass er so eine Strafe auferlegt bekommen hatte.

John Locke starb wenige Tage später. Er redete immer wieder vom Glauben und der Wissenschaft. Vom Zufall, vom Glück, vom Schicksal. Er glaubte einst, diese Insel gäbe ihn die Kraft für ein neues Leben, einer neuen Bestimmung, einem neuen Ziel in seinem Leben. Ob er das alles auch gefunden hat, konnte er nur für sich selbst beantworten. Er hoffte es führ ihn. Dass er wenigstens einmal Genugtuung in seinen erbärmlichen Leben bekommen hat. Er blickte in das Auge der Insel und was er sah, war keine Herrlichkeit mehr, sondern nur noch Angst, Schrecken und Wut. Am Ende konnte er nur vermuten, was mit ihm passiert ist. Er verdächtigte, dass dieser Rauch, der schon viele male sein Unwesen im Dickicht des Dschungels trieb, dafür verantwortlich gewesen war. Vielleicht war das Locke’s Bestimmung.

All diese Erinnerungen brachten ihn wieder hier her. Zu seinem Ursprung. Er war zurück auf dem Boden der Tatsachen. Alleine. Vom Tod nicht berücksichtigt. Im Stich gelassen und ausgelacht. Verflucht auf ein einsames Leben in der Wüste dieses kargen Landes. War das seine Bestimmung, sein Schicksal? Zu Leiden, auf immer und ewig?
Er konnte sich nicht mehr viele Gedanken darüber machen, denn die Sonnenstrahlen schossen immer mehr dem Himmel empor, und mit ihr die Hitze eines Tages in den Tropen. Er brach zusammen. In den Trümmern seiner neuen Heimat. Die letzten Gedanken formten sein Gesicht zu einer Art Lächeln. Aber vielleicht war es auch nur der Wunsch danach, es zu sehen. Er wurde wieder ohnmächtig. So bekam er auch nicht das Boot mit, welches vor der Küste auftauchte. Engel? Die Diener Gottes, oder doch die Boten des Todes, die ihr letztes Opfer forderten? Oder doch nur einfache, fremde Menschen?

Als das Boot in Strandnähe kam, tauchten Gestalten auf und suchten weite Teile des Camps ab, sichtlich ohne nennenswerten Erfolg jeglicher Art. Sie steckten verschiedene Dinge in ihre Taschen und waren daran, wieder an Bord zu steigen, als sie den leblosen Körper entdeckten. Nach kurzer Begutachtung, hoben sie ihn auf und brachten sie ihn an Bord des Schiffes und legten ihn auf eine provisorische Liege. Wahrscheinlich waren es Engel in Menschengestalt, dachte er, als er sie noch im Augenwinkel wahrnehmen konnte. Sie unterhielten sich. Er war nur noch verwirrt, aber doch irgendwie glücklich, gerettet worden zu sein. Sei es vom Tod, von Gott oder doch nur von einfachen Menschen. Manchmal scheint der Rettungsanker doch nur die simpelste Lösung zu sein. Vielleicht nicht für jeden, aber für ihn wohl schon.

„Und, wen haben wir hier vor uns?“, fragte der eine.
„Ich weiß nicht genau. Auf seinem Halsband steht Vincent.“