Letzte LOCKE-Szene


John Locke saß im Schatten des Dschungels und betrachtete seine zerstörten Beine. Über das verwundete Fleisch hatten sich Schichten geronnenen Blutes gebildet. Es gab keinerlei Frakturen, aber… etwas in ihm weigerte sich diesen Gedanken zu beenden. Als zwei Moskitos auf seinem Knie Platz nahmen, verscheuchte er sie nicht. John sah die Insekten zustechen, und er wusste, dass es Weibchen waren. Er selbst wartete auf den kommenden Juckreiz, sehnte ihn geradezu herbei, doch er blieb aus.
Tot, dachte er nur. Wie alles andere auch. Tot.
Er kniff die Augen zusammen: In der Ferne, weit hinter den Wellen, am Ende des Horizonts stiegen noch immer von verschiedenen Orten drei riesige Rauchwolken auf. Die Inseln selbst lagen im Verborgenen, doch der Rauch schraubte sich einen halben Kilometer hoch in den Himmel und verriet sie. „Ihr Narren“, rief er. „Ihr verfluchten Narren!“ Er stieß sein Messer in den Sand, hart und voller Wut, doch in seiner Stimme lag mehr Trauer als Zorn.
Locke schloss die Augen, legte das Kinn auf die Brust und versuchte zu atmen. Hinter seinen Lidern pochten Schmerz und Erinnerung.

„John…?“
Claire Littleton kniete neben ihm.
„Wie lang bin ich weg gewesen?“ Er schüttelte den Kopf, um einen Traum los zu werden, an den er sich nicht erinnerte.
„Vielleicht zehn Minuten. Du hast geredet im Schlaf“
„Ich hoffe, es war nichts Verständliches darunter…“
„In Relation zu den letzten paar Monaten, meinst du?“ Sie schenkte ihm ein ironisches Lächeln, das noch immer jugendlich wirkte. Ihre Augen aber waren blutunterlaufen, ernst und seltsam gealtert. Er sah die Stelle, an der die Kugel sie um Millimeter verfehlt hatte. Das Projektil hatte eine Schneise hinterlassen, die von der linken Schläfe über das Ohr bis zum Ende ihres Kopfes reichte. Eine perfekte Gerade, als wäre sie mit dem Lineal Gottes gezogen worden. Schwarz verbranntes Haar kräuselte sich über der Wunde. Als er bemerkte, dass Claire ihn musterte, sagte er:
„Es wird keine Narbe zurückbleiben.“
Claire nickte. Beide wussten sie, dass dies nur die halbe Wahrheit war. Ihre Narben gingen tiefer. Viel tiefer. Während sie die Schale mit der Tinktur abstellte, die zerschnittenen Hosenbeine zurückschlug, die unablässig im Wind flackerten, und den Schaden betrachtete, sagte sie starr: „Danke, dass du zurückgekommen bist.“
„Es war nicht genug.“
„Du würdest ein ‚Danke` nicht einmal akzeptieren, wenn man es Dir in großen Lettern auf die Haut tätowierte, nicht war, John Locke? Es WAR genug!“
„Ich…“ begann er verzweifelt.
„Halt still!“ Mit der Rückseite eines Löffels trug Claire behutsam die Tinktur auf. „Ehrlich gesagt, habe ich nicht die geringste Ahnung, was ich hier tue! Sun sagte, es müsse eine Stunde einziehen, bevor die heißen Laken…“ Sie unterbrach abrupt und stellte endlich die unausweichliche Frage: „Was genau ist da drüben passiert? Was haben sie getan?“
Locke starrte hinaus auf den Rauch und antwortete: „Was auch immer, es war das Falsche.“
„Aber das Signal wurde gesendet?“
„Soweit ich weiß, ja.“
„Sie sind unterwegs zu uns? Sie werden uns retten?“
„Mit einer Wahrscheinlichkeit von 90 Prozent.“
Claire Littleton lächelte, und dieses Mal lächelten sogar ihre Augen. Sie erhob sich, streifte unachtsam die Hände an ihrem Rock ab und sagte: „Ich werde die Laken vorbereiten. Wenn ich zurückkomme, musst Du mir unbedingt mehr über Helen erzählen. Bis dahin solltest du dich ausruhen. Wie lange hast du nicht geschlafen? Dreißig Stunden? Vierzig?“
Locke legte den Kopf schief, als Claire Helen erwähnte, doch bevor er etwas erwidern konnte, war sie außer Hörweite. Helen. Er hatte lange nicht an sie denken wollen. Jetzt plötzlich -in all dem Chaos- erschienen ihm die Erinnerungen an sie tröstlich. Nicht alle, aber einige. Er konzentrierte sich auf ein paar davon und schloss erneut die Augen.


„John?“
Er kannte die Stimme, die ihn zu wecken versuchte. Und genau deshalb wollte er nicht aufwachen, nicht um alles in der Welt.
„John?“ Die Stimme war sanft. „Willst du ewig vorgeben zu schlafen?“
Er öffnete widerwillig die Augen und sah direkt in das Gesicht von Mr.Eko. Sein strahlendes Lächeln war nur wenige Zentimeter von ihm entfernt.
„Du bist nicht real, Eko“ antwortete Locke hart. „Du bist...“
„Gestorben? Wolltest du das sagen?“
„Wir haben dich beerdigt.“
„Hast nicht du selbst einmal gesagt, dass nichts auf der Insel lange begraben bleibt?
„Dein Grab liegt südlich von hier. Dein Stock ist das Kreuz!“
„Tatsächlich? Meinst du den hier?“ Eko überreichte ihm den Stock mit den Psalmen, der irrational fest und massiv in Lockes Händen lag. Seine Finger glitten über das Holz und fühlten jede Kerbe. Ungläubig. Wieder und wieder.
„Aber - “
„Ein paar von uns sind noch hier und wollen dich besuchen, John.“
Sie kamen einzeln. Boone war der erste, der weitab von Locke Platz nahm. Shannon gesellte sich zu ihm und küsste ihrem Halbbruder die Stirn. Gleich darauf stießen Libby und Dr. Arzt hinzu. Ana Lucia lächelte. Oder war es die Sonne, die diesen Eindruck erweckte? Der Halbkreis füllte sich. Die letzten, die sich ihm anschlossen, waren Charlie, Desmond, Sayid und Jack. Niemand sprach. Sie bildeten ein stummes Tribunal, dessen Blicken John nicht standhielt.
Eko hingegen lächelte noch immer, und es lag keinerlei Vorwurf darin. Nur milde Güte.
„Was willst du, Eko?“
„Wir möchten, dass du deine Fehler korrigierst.“
„Was..? Wie?“
„Soll ich dir ein Geheimnis verraten, John?“ Das Gesicht des Nigerianers rückte noch dichter an seines. „Bisher kennst du nur einen Teil dieser Insel. Du weißt um ihre Macht. Aber in ihr HERZ bist du nie vorgedrungen. Niemand hat es soweit geschafft.“
„Sie haben alles zerstört.“
„Nicht alles.“
„Ich … ich verstehe nicht.“
Der Nigerianer erhob sich; sein Schatten fiel schwer auf den sitzenden Locke. Er wies mit seinem ausgestreckten Arm direkt auf den Horizont. „50 Meilen von hier in diese Richtung liegt das Herz von allem. Der Ursprung. All die Antworten auf deine Fragen.“ Etwas Seltsames war mit Ekos Stimme geschehen. Sie war melodiöser geworden und ähnelte jetzt einem dunklen Gesang. John folgte dem ausgestreckten Finger, hinweg über die Gestalten seiner einstigen Weggefährten, hinweg bis an das Ende des Strandes und darüber hinaus auf den Ozean.
„Siehst du es?“ Eko sang wieder. Seine Worte fädelten sich wie Schlangen in Lockes Verstand. Und plötzlich SAH er tatsächlich etwas. Kein Land, keine Insel, nur ein merkwürdiges Flimmern in der Ferne, mitten im Meer. Wie ausgestanzt aus der Wirklichkeit schien ihm dieser winzige Bereich im Wasser.
Eko betrachtete ihn und stellte erfreut fest: „Du siehst es, nicht wahr, John?“ Sein Gesang war nun pure Hypnose.
„Ja.“
„Dorthin musst du, um richtig zu stellen, was nie hätte geschehen dürfen.“
„Aber wie...?“ John Locke ergriff Panik. Einer nach dem anderen aus dem schweigenden Tribunal erhob sich und begann auf das Wasser zuzugehen. Ein Teil seines Verstandes bemerkte, dass keiner von ihnen Spuren im Sand hinterließ, und verdrängte sogleich diese Tatsache.
„Halt!“ rief er.
„Du musst es korrigieren, John!“ Auch Eko kehrte ihm nun den Rücken zu.
„Warte…wie soll ich…meine Beine…“
„Sie stellen keinerlei Problem mehr dar, John. Versuch es.“ Eko entfernte sich weiter und weiter.
Hektisch griff Locke nach den beiden Ästen, die ihm beim Durchqueren des Dschungels als Krücken gedient hatten. Als er sich emporstemmte, geschah dies ohne jede Anstrengung. Er tat problemlos einen Schritt mit den Krücken, ließ eine fallen und versuchte den nächsten Schritt mit nur einem der Äste. Er lachte, als er feststellte, dass er auch diesen nicht brauchte, und sein Lachen war laut und hell und brannte sich tief in seine Kehle. Als er zum Ufer blickte, sah er gerade Ana Lucia eintauchen und Eko ins Wasser waten. Er wandte sich ein letztes Mal um sagte: „Wir vertrauen dir, John, und warten auf dich. Korrigiere es.“
Der letzte Satz spulte sich als Endlosschleife hinter John Lockes Stirn ab, und genau das war der Moment, in dem er zu laufen begann.
Korrigiere es…
Er lief so schnell wie seit Jugendtagen nicht mehr.
korrigiere es korrigiere es korrigiere
Er sprang und glitt ins Wasser.
Korrigiere…
„Eko…warte!“

Und so kam es, dass ein völlig erschöpfter und dehydrierter John Locke, der seit mehr als zwei Tagen nicht wirklich geschlafen hatte, zwischen den aufpeitschenden Wellen dem schwarzen Rücken eines Toten zu folgen begann, tiefer und tiefer hinein in den endlosen Ozean.