„The End of Lost“ »» PLATZ 4
Anmerkung...
Bitte betrachtet meine Story nicht direkt als das Ende von "Lost", sondern eher als eine Art kleine Episode daraus, die für sich abgeschlossen ist und dabei ergänzendes Hintergrundwissen liefert, ohne die großen Fragen zu beantworten.
Die Story...
Der große Tag war gekommen. Nach so vielen Jahren. Endlich.
Ein uralter Hit, vermutlich aus den 1970ern, erklang und riss eine einsame Person aus dem Schlaf. Jene Person warf einen Blick auf den Radio-Wecker, stellte die Musik leiser und erhob sich aus ihrem Bett. Sie fieberte dem Moment, auf den sie so lange gewartet hatte, entgegen. Einige Stunden würde sie sich noch gedulden müssen. Die Person hatte diesen Tag genau geplant.
Sie griff sich zwei Scheiben Toast-Brot aus der Tiefkühltruhe und erwärmte sie fünf Minuten. Dazu Erdbeer-Marmelade, Schokocreme und Cornflakes. Es mangelte hier an nichts.
Auf dem Weg zum Bad blieb der Blick dieser Person an einem Gegenstand hängen, der auf einem kleinen Regal stand. Die Person betrachtete das kleine Modell-Flugzeug aus der Nähe. Ein Lächeln legte sich auf ihr Gesicht. Dann steckte sie es ein.
Die Person packte das Nötigste zusammen. Ein letztes Mal stellte sie sich vor die dicken Glasscheiben und genoss den atemberaubenden Ausblick. Den Blick aufs Blaue.
"Shille-ham-nida. Jong-o-marül ha-shim-nikka? Irum-ün mu-oshim-nikka?"
Die Person mochte die koreanische Sprache. Sie war auf ein Wörterbuch gestoßen und beherrschte die grundlegenden Vokabeln nun einwandfrei. Das Wörterbuch ließ sie hier. Sie würde es nicht brauchen, dort, wo sie hin ging.
Noch einmal sah sich die Person in ihrer Behausung um. Die Person, männlich, hatte mit dem Gedanken gespielt, sich für den heutigen Tag noch einmal zu rasieren. Allerdings hatte der Mann auch die letzten Monate darauf verzichtet. Es erschien ihm irrsinnig, es ausgerechnet an diesem Tag wieder zu tun.
Der Mann ging auf die Tür zu. Er würde diesen Ort nun verlassen. Den Krückstock in der Ecke würdigte er keines Blickes. Manchmal war er auf ihn angewiesen. Heute nicht.
Ein letztes Mal drehte sich der Mann um.
"An-nyong-hi-ke-seo."
Es war ein Abschied für immer.
Der Mann öffnete die Tür, schritt in den kleinen Vorraum und verschloss die Tür wieder. Er wusste, was nun zu tun war. Oft genug hatte er die komplizierten Mechanismen in Gang gesetzt.
Er öffnete eine kleine Luke und zog kräftig am Ende eines mächtigen Kabels. Der Mann war erfahren im Öffnen von Luken. Er wusste, dass das Meer nun kleine Wellen schlug, auch wenn er es nicht sah.
Wie immer dauerte es einige Minuten, bis sich die metallenen Türen nach links und rechts zur Seite schoben.
Der Mann betrat den Aufzug und betätigte die einzige Taste, die für ihn in Frage kam. Sie führte ihn nach oben.
Er streifte sich den Anzug über, verließ den Fahrstuhl und betrat einen weiteren, kleinen Raum. Er zählte genau mit. Es dauerte wie immer exakt 42 Sekunden, bis sich der Raum allmählich mit Wasser füllte.
Sa ... Pall ... O-Shipp ... Juk-Shipp ... Sam-I-Shipp ... I-Sa-Shipp ... Er hatte sich mittlerweile an die Allgegenwärtigkeit der Zahlen gewöhnt. Er wusste, was sie bedeuteten. Und er war dankbar dafür, dass es sie gab.
Der Mann spürte die Bewegung und wartete geduldig auf das Erreichen seines Ziels. Ein Blick auf seine Uhr. Er musste grinsen. 8.15 Uhr. Er hatte noch viel vor.
Die Tür öffnete sich und es trieb den Mann hinaus ins Meer. Die restlichen zehn Meter musste er schwimmend zurücklegen. Am Strand angekommen entledigte er sich seines Anzugs und versteckte ihn an der dafür vorgesehenen Stelle.
Es spielte eigentlich keine Rolle mehr.
Der Doktor warf einen Blick hinaus aufs Meer. Kaum zu glauben, was unter der Oberfläche verborgen lag. Kaum zu glauben, was auf dieser Insel einst im Verborgenen lag. Viele Jahre waren seit seiner Ankunft vergangen. Er war nicht allein gekommen, doch er war der Letzte, der gehen durfte. Alle Menschen, die er in dieser Zeit kennengelernt hatte, hatten ihn verlassen. Sie starben, fanden einen Weg, weg von dieser Insel, oder hatten sich den Anderen angeschlossen.
Doch er musste bleiben. Viele Jahre. Nun war er ein alter Mann. Fast die Hälfte seines Lebens hatte er auf dieser Insel verbracht. Er sprach noch immer von einer Insel, obwohl er es besser wusste.
Was hatte er nicht alles gesehen und erlebt, und zunächst nur sehr schwer begriffen.
Als Mediziner, als Mann der Wissenschaft hatte er die Insel betreten, als Mann des Glaubens würde er sie am heutigen Tag wieder verlassen.
Er hatte das Wesen dieser Insel erforscht. Sie hatte ihm ihr Innerstes offenbart und er hatte es verstanden. Es zu erklären? Unmöglich. Man musste ihr Innerstes gesehen haben, um es begreifen zu können.
Es gibt so vieles, was wir nicht begreifen können. John Locke hatte Recht.
Der Doktor kannte die Insel in- und auswendig. Alle Abkürzungen. Innerhalb kürzester Zeit hatte er sein erstes Ziel erreicht.
Nach der Katastrophe hatten sie sich für einige Zeit hierher zurückgezogen. Die Höhlen an sich interessierten ihn kaum. Zielstrebig marschierte er voran, verzögerte jedoch auf den letzten Metern die Schritte.
Sie lagen noch immer da. Ein Mann und eine Frau. Verwest.
Er hatte über sie gerätselt, doch seit geraumer Zeit wusste er, um wen es sich bei den Beiden handelte. Er konnte nicht fassen, dass sie sich ebenfalls auf dieser Insel aufhielten. Auch wenn er sie kaum kannte - es waren Freunde, Gleichgesinnte. Die Tränen ließen sich nicht zurückhalten.
Er nahm Abschied und verließ die Höhle.
Es hatte mittlerweile zu regnen begonnen. Wie das Ende der Welt fühlte es sich an. Und das war es gewissermaßen ja auch. Immer wieder. Jedes Mal aufs Neue. Er kannte den Ursprung dieser spontan hereinbrechenden, sinnflutartigen Regenfälle. Wieder kroch ihm bei dem Gedanken daran eine Gänsehaut über den Rücken.
Der Mann setzte seinen Weg fort.
Er führte ihn durch das Dunkle Territorium, vorbei an der Black Rock, deren Herkunft so rätselhaft erschien wie am ersten Tag.
Zügigen Schrittes ging es weiter. Der Mann wusste, wo er sich nun befand. Er wusste, was kommen würde. Aber er fürchtete es nicht. Nicht mehr.
Die einst furchteinflößenden Geräusche nahm er ebenso kaum noch wahr, wie die sich entwurzelnden Bäume. Oder das, was er einst als Bäume bezeichnet hatte.
Der Mann hatte keinen Namen für die sich ihm annähernde schwarze Rauchwolke. Sie umgab ihn. Sie sprach zu ihm. Dieses Wesen hatte Menschen getötet. Der Mann konnte es nicht gutheißen, aber er tolerierte es. Er kannte das höhere Ziel, auch wenn es mehr denn je unerreichbar erschien. Aber vielleicht würde sich das am heutigen Tag ändern.
Das Wesen entfernte sich wieder. Der Mann war sich sicher, es nie wiederzusehen. Er irrte.
Ebenso abrupt wie es zu regnen begann, endete es auch wieder.
Der Mann griff in seine Hosentasche und holte ein Blatt Papier heraus. Er setzte sich nieder, lehnte sich an einen Baum, faltete das Blatt auseinander und betrachtete es. Viele Minuten.
Sie... Er hatte sie kennengelernt, gleich am ersten Tag auf dieser Insel. Er hatte sie nie ganz begriffen, aber er spürte von Beginn an ein tiefes Gefühl der Verbundenheit. Es beruhte wohl nicht auf Gegenseitigkeit. Sie hatte sich gegen ihn entschieden. Nun war sie tot. Er hatte sie getötet. Sie hatte ihm mit ihrer Entscheidung keine andere Wahl gelassen.
In der Ferne nahm der Mann ein Geräusch wahr. Es war nicht das Wesen. Nie kam es zweimal. Schon bald erkannte er den Verursacher des Geräuschs. Er hätte es sich denken können. Ein großes Tier mit weißem Fell. Der Mann hatte von den Versuchen mit ihnen erfahren und war entsetzt darüber. Sie waren weder aus medizinischer Sicht sinnvoll, noch moralisch vertretbar. Moral spielte für ihn eine große Rolle. Schon immer.
Der Mann hatte es nicht auf eine Konfrontation mit dem Eisbären abgesehen. Er setzte seinen ursprünglichen Weg fort.
Die todbringende Beechcraft und ein dickes Fragezeichen. Hier war er richtig.
Er war in die Jahre gekommen und es dauerte ein Weile, bis der Mann den Weg nach unten fand.
Alles war staubig. Seit Ewigkeiten hatte sich hier niemand mehr aufgehalten. Der Mann hatte es auf etwas Bestimmtes abgesehen. Ein Video. Noch nie hatte er es zu Gesicht bekommen. Er suchte ein Weile und fand.
Er musste lachen, als er die Person im braunen Anzug sah, die sich in dem Film als "Mark Wickmund" vorstellte. Die Person wusste nicht, wovon sie sprach. Sie hatte nicht den Ansatz einer Ahnung vom wahren Wesen dieser Insel.
Der Mann brach den Film vorzeitig ab. Ihm wurde unwohl dabei. Mittlerweile wusste er, dass er von hier aus von den Anderen eine Zeit lang beobachtet worden war. Doch er wusste noch immer nicht, wie es dazu kommen konnte.
Er verließ diese Station wieder. Er hatte genug gesehen und zu viele alte Erinnerungen wieder hervorgeholt. Es war keine gute Idee gewesen, diesem Ort einen Besuch abzustatten.
Er holte noch einmal das Bild von der Frau hervor, um sich an die besseren Zeiten zu erinnern. Sie lächelte darauf. Je länger sie auf dieser Insel waren, desto seltener hatte sie gelächelt. Zum Schluss hatte sie sich gegen ihn entschieden. Sie hatte sich den Anderen angeschlossen und wurde eine von ihnen. Jene, die sich als die Guten bezeichneten, aber über diese Insel herfielen wie Parasiten.
Kurz nach ihrer Ankunft nahmen sie das erste Mal Kenntnis von den Anderen. Sie waren bereits vor ihnen hier. Mit der Zeit glaubte er, sie besser verstehen zu können, doch er irrte. Die Situation eskalierte. Und sie wurde eine von ihnen. Er war gezwungen, ihresgleichen zu töten. Ihm blieb keine andere Wahl.
Das Bild sollte ihn an bessere Zeiten erinnern. Es tat es nicht. Er faltete es wieder zusammen und steckte es ein.
Der Doktor wusste, wo er auf andere Gedanken kommen würde. Am für ihn heiligen Ort. Jenen Ort, den die Anderen nicht besuchen konnten. Denn sie waren nicht die Guten.
Ein riesiger weißer Stein. Größer als der Mann. Es schien fast so, als ob er von innen heraus leuchtete. Er war der Grund für alles. Für den Rauch, für den Regen, für die heilenden Kräfte. Es gab ihn schon immer und es würde ihn auch immer geben.
Der Mann näherte sich ihm mit Ehrfurcht und lehnte sich an ihn an. Bilder durchströmten seinen Kopf.
Er sah, was war. Die Black Rock, die Anderen, die Dharma Initiative.
Er sah, was wird. Menschen würden kommen und verschwinden, auch die Anderen. Die Insel würde sich wandeln, zu einem anderen Ort. So wie es ständig geschah. Aber der Stein würde bleiben. Die Kraft, die ihm innewohnte. Sie war die Antwort auf alles.
Der Bilderstrom erlosch. Die Kraft kannte die Grenzen des menschlichen Verstandes.
Der Mann fühlte sich vollkommen, die schlechten Erinnerungen waren vergessen.
Er schaute auf die Uhr. Lange würde es nicht mehr dauern. Der große Augenblick würde kommen. Die Nervosität steigerte sich.
Der kleine Umweg war ursprünglich nicht eingeplant gewesen, doch der Mann nahm ihn, um sich zu vergewissern.
Ein kleiner Bunker. Er nannte ihn "die Vorratskammer". Sie alle waren da. Sie alle würden bald gebraucht. Er wusste nicht, welche Wirkung sie hinterlassen würden. Man würde es sehen.
Der Mann hatte es nun eilig. Sein Abschied stand unmittelbar bevor. Geben und Nehmen. Es blieb im Gleichgewicht. Die Insel war mit dem Deal einverstanden.
Er hatte das Meer nun wieder erreicht. Diesen Ort nannte er "Fuß der Insel".
Es war ein architektonisches Meisterwerk. Fast komplett zerstört, aber er hatte am Wiederaufbau mitgewirkt. Er wusste, dass sich zuvor bereits andere Menschen an diesem Ort aufhielten und es wohl erbaut hatten. Den Grund kannte er nicht. Er war ihm egal.
Nervös marschierte er auf und ab. Ein Blick auf die Uhr. Gleich war es so weit.
Die Absprache mit dem Piloten war eindeutig. Hoffentlich hielt er sein Wort.
Mit einem letzten Blick auf sein Handgelenk verließ er die Landebahn. Die Uhr zeigte 04:16 PM, als ein schweres Beben die gesamte Insel erschütterte.
Dr. Marvin Candle richtete einen sorgenvollen Blick in den Himmel.
Er wusste sofort, dass er diesen Ort nicht verlassen würde. Nicht an diesem Mittwoch, im September des Jahres 2004.
Autor: JohnnySinclair